SPANISCH AMERIKA
Bildungsförderung zwischen Reformation und Revolution
Privatedition 1999
Das dem Erinnerungsbuch an meine Reisen in Afrika – Meine Begegnung mit Afrika – (1996) schloss beschloss mit der Bemerkung: „Ich schaffe mir zur persönlichen Erinnerung an eine faszinierende Welt in einer bewegten Zeit mit diesem „Album“ mein eigenes afrikanisches Bilderbuch.“ Diesem folgte 1998 eine Retrospektive auf Fernost, Südasien und Südostasien – Mission in Fernost – Auf den Spuren Vasco da Gamas. Die Erinnerrungen an „Spanisch-Amerika“ (1999) sollen mehr sein als ein hübsches „Bilderbuch mit Text“, wodurch sie sich von den vorhergegangenen Reisebüchern stark unterscheiden. Es handelt sich eher um einen „Text mit Illustrationen“, vielleicht in der Art eines „Lateinamerikanischen Tagebuchs“, denn als „alter Lateinamerikaner“ habe ich verständlicherweise über Süd- und Mittelamerika wesentlich mehr und vor allem Substantielleres zu berichten, als über die von mir ebenfalls geschätzten und bewunderten Kontinente Afrika und Asien. In die Problematik der Länder Afrikas sowie Süd- und Südostasiens hatte ich mich im Laufe der Jahre intensiv einzufühlen und kundig zu machen versucht, jedoch hatte ich dort nie über längere Zeit gelebt. In Südamerika hingegen war ich nicht nur ein halbes Leben lang mehr oder weniger zuhause gewesen, sondern hatte mich fünfzig Jahre lang intensiv mit der Geschichte und sozio-politischen Entwicklung dieses Subkontinents beschäftigt. Wen könnte es also wundern, dass diese Retrospektive in gewisser Weise zugleich eine Art von „Kompendium“der elementarsten Probleme Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden ist?
Den Hintergrund meines „Lateinamerikanischen Tagebuchs“, um einmal bei diesem Begriff zu bleiben, bildet das kontinuierliche Bemühen des Berichterstatters um ökumenische Bildungsförderung, sozusagen „zwischen Reformation und Revolution“, womit nicht nur die sozio-politische Situation Lateinamerikas während der betreffenden Jahre mit angesprochen wird, sondern auch die beträchtliche Spannung zwischen den Wertmaßstäben eines im Raum der protestantischen Kirche entworfenen Bildungsprogramms und einer eher marxistisch geprägten Ideologie der jungen Generation Lateinamerikas. Es gab aber auch innerhalb der EKD und ihrer einschlägigen Organe selbst enorme Spannungen in Bezug auf gültige Wertmaßstäbe im Kontext der ökumenischen Bildungsförderung. Dies widerspiegelte auch mein seinerzeit unter der Überschrift „Bildung im Weltmaßstab“ erschienener Aufsatz in „Die evangelische Diaspora“ (1976, pg. 74 ff.), in dem eindringlich auf die christliche Verantwortung für die Gesellschaft – gerade auch durch die Heranbildung von Führungskräften für Kirche und Staat – hingewiesen, und „das Evangelium als ein Programm zur Weltgestaltung“ gedeutet wurde. „Kirche und kirchliches Handeln sind nur noch in ökumenischen Dimensionen denkbar“, lautete die generelle Prämisse. Ständig hatte man gegen „ekklesiogene“ Einwände aus den Amtsstuben kirchlicher „Entwicklungstechnokraten“ z. B. gegen die Förderung ostafrikanischer Führungskräfte, falls deren Schreibtisch nicht in einem der Nationalen Christenräte, sondern in einem Department der Regierung stehen würfe, anzukämpfen. Hinter solch binnenkirchlichen Einwänden stand sozusagen unsichtbar die lutherisch-orthodoxe Vorstellung von den „beiden Reichen“. Die lutherische „Zwereichelehre“ wurde allzu oft als Alibi für gesellschaftspolitische Abstinenz in Anspruch genommen und verführte leicht dazu, die res publica sich selbst zu überlassen (wie man es u. a. bei den bildungsfeindlichen Spiritualisten zur Zeit der Reformation beobachten konnte). Dem war entgegenzuhalten, dass Luther sehr wohl die Bedürfnisse der „beiden Reiche“ und die Verantwortung der Christen für beide, für Kirche und Gemeinwesen, gesehen habe: „Weil denn eine Stadt soll und muß Leute haben – und allenthalben das größte Gebrechen, Mängel und Klage ist, dass es an Leuten fehle – so muß man nicht warten, bis sie selbst wachsen; man wird sie auch weder aus Steinen bauen, noch aus Holz schnitzen … Darum müssen wir dazu tun und Mühe und Kosten daran wenden, sie selbst erziehen und machen.“ (Calwer Ausgabe, B,d.4, S.l6lSiebenstern TB 55). Was die „südlichen Länder“ betraf, so konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass diese hinsichtlich der Verwaltung, Industrie, Wirtschaft und des Hochschulwesens noch immer weitgehend auf westliche oder östliche Experten angewiesen waren.
Der Text des Buches basiert vorwiegend auf Reiseberichten und Situationsbeschreibungen mit Bezug auf die betreffenden Länder und auf persönlichen Aufzeichnungen, wobei auch Briefe aus drei Dekaden, in denen manche Details festgehalten worden waren, die ohne ihre schriftliche Aufzeichnung kaum mehr hätten in Erinnerung gebracht werden können, eine wichtige Rolle spielen. Auch das Bildmaterial entstammt überwiegend dem persönlichen Fotoarchiv des Autors.
Meine erste Begegnung mit Lateinamerika geht auf das Jahr 1952 zurück, als wir, damals blutjunge Pfarrersleute, den ersten Blick auf den „Zuckerhut“ in Rio de Janeiro werfen konnten. (vgl. H. Dressel, 15 Jahre Landpfarrer in Rio Grande do Sul – BRASILIEN, Aufbaujahre nach dem 2. Weltkrieg bis zur Bildung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLB), erinnert anhand von Briefen und Aufzeichnungen, FDL-Verlag Augsburg, 1998). Brasilien war nicht gleich „Lateinamerika“ – und auch die südliche Region dieses Landes – von Rio Grande bis Rio de Janeiro – war nicht gleich „Brasilien“, vielmehr nur ein bescheidener Ausschnitt aus dem bunten Mosaik der oft recht unterschiedlichen brasilianischen Regionen. Den ersten Schritt über „Portugiesisch-Amerika“ hinaus nach „Spanisch-Amerika“ vermochte ich erst 13 Jahre später zu tun, als ich 1965 zusammen mit meinem Freund und Kollegen Oskar Lützow an dem IV. Congreso Luterano Latinoamericano, einer Zusammenkunft der Lutherischen Kirchen Lateinamerikas in Lima und anschließend an einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie in La Paz aktiv teilnahm, von wo aus wir dann über Buenos Aires wieder in das Land der gaúchos zurückkehrten. Nach einer ansehnlichen „Lehrzeit“ in Brasilien und sicherlich auch infolge der „Nähe“ zu den Ländern des hispanophonen Teils Amerikas, z. B. durch eine kontinuierliche Berichterstattung seitens der Presse – war es nicht allzu schwierig, die Realitat in den nunmehr besuchten Ländern angemessen in ein Gesamtbild des Subkontinents einzuordnen.
Wie ließe sich dieses Gesanrtbild rückblickend in ein paar Sätzen beschreiben?
Lateinamerika befand sich um 1960 – trotz Fidel Castro und Camilo Torres – gesellschaftlich noch am gleichen Platz wie eh und je: wirklich einschneidende Veränderungen waren ausgeblieben. Dennoch gab es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Zeit bis zum Ausgang der 50er Jahre und der darauf folgenden Periode: im Gefolge der sich rasch ausbreitenden modernen Technik wurden bei den Menschenmassen Lateinamerikas, die bis dahin gewissermaßen noch weithin im Mittelalter – oder bestenfalls im 19. Jahrhundert – gelebt und dabei in einer Art von „Dornröschenschlaf“ geschlummert hatten, Hoffnungen
und Erwartungen geweckt, die von nun an als permanenter revolutionärer Zündstoff in der Gesellschaft weiter wirkten.
Auch die evang. Kirche stand in dieser doppelten Realität: Noch fanden sich in den sog. Einwanderungskirchen weithin die alten, überkommenen Strukturen; andererseits registrierte man fast durchgehend das Entstehen eines neuen Bewußtseins bei den Nachkommen der deutschen Einwanderer in Lateinamerika: Nach zwei, drei Generationen, die notwendigerweise erst einmal mit dem Auf- und Ausbau ihrer eigenen Position beschäftigt gewesen waren, hatten die evangelischen Christen deutscher Abstammung mittlerweile begonnen, ihre Verantwortung oder wenigstens ihre Mitverantwortung für ihre Umwelt zu realisieren und bemühten sich, ihrem Auftrag als Bürger des 6. Kontinents gerecht zu werden.
Zielte ich auf eine „Feineinstellung“ hinsichtlich der Beurteilung der Situation auf dem Subkontinent während dsr zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, könnte ich sagen: In jeder der vier Dekaden südamerikanischer Entwicklung, die ich – entweder als „ausländischer Mitbürger“ oder als offizieller Besucher – miterleben durfte, gab es einschneidende Veränderungen – in den 50er Jahren den Abgang der großen Populisten oder Caudillos – Getulio Vargas, Juan Domingo Perón Jesús Maria Velasco Ibarra und Haya de la Torre, in den 60er Jahren den Einzug sozialrevolutionärer Ideen in den 70er Jahren die Repression durch die Militärs, und schließlich in den 80er Jahren den Aufbruch der Linken.
Was einem dann zu Beginn der 90er Dekade in Südamerika begegnete, ergab ein völlig neues Bild, in dem sich zweifellos auch die Dynamik widerspiegelte, die seit geraumer Zeit im Osten Europas um sich gegriffen hatte und die sich vielleicht am ehesten durch den Slogan kennzeichnen ließ: „Wir sind das Volk.“ Es zeigte sich nämlich auch in Südamerika, dass die gängigen Orientierungsmarken – „links“ und „rechts“ – inzwischen ihre Funktion verloren hatterl während sich bei den Bürgern ein neues demokratisches Bewusstsein herausgebildet hatte, das den Menschen in den Mittelpunkt stellte, den die
bisherigen Regierungen linker oder rechter Couleur de facto sträflich vernachlässigt hatten!
Was bei diesem Wechsel de facto herauskam, läßt sich zu diesem Zeitpunkt nur schwer einschätzen. Für ein abschließendes Urteil befinden wir uns wahrscheinlich noch zu nahe am Geschehen.
Immerhin deuten bestimmte Anzeichen hinsichtlich der Entwicklung in Argentinien, Brasilien, Chile und Peru – um hier nur einige der in Frage kommenden Länder zu nennen – nicht gerade darauf hin, dass das Wohlergehen der Massen erstes Ziel der politischen Bestrebungen der „neuen demokratischen Klasse“ wäre. Eher könnte man sagen, dass die Geschichte Lateinamerikas sich unter anderen Vorzeichen wiederhole:
Mudamos de condición
pero fue sölo pasando
del poder de Don Fernando
al poder de don Simón.
Wir änderten unsere Kondition,
doch was wir fertiggebracht
war nur ein Wechsel von Don Fernandos Macht
zur Herrschaft von don Simón.
Die akute Kondition oder der akute „Befund“ des Patienten Lateinamerika bestätigt weitgehend die alte Diagnose: del cacique al gobernador, oder, wie ein Kommentator nüchtern konstatiert: malgastamos siglas en autocrocias – wir haben Jahrhunderte durch autokratische Regierungen vergeudet. Fest steht, dass der Kontinent seit dem Rückzug der Militärs in die Kasernen zwei Jahrzehnte vergeudet hat. Zur Illustration könnte man dabei vielleicht an den argentinischen Präsidenten Carlos Ménem oder an den brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso denken, auf jeden Fall jedoch an den peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori.
Wie mag es im neuen Jahrtausend auf dem Subkontinent weitergehen? Mir fiält dazu nur das sibyllinische Wort des letzten Militärpräsidenten Brasiliens vor der ,“Öffnung“ ein: ,“O futuro a deus pertence.“
November 1999